Als sich Johann Reichhart 1924 für den Posten des Scharfrichters bewirbt, ist das für ihn ein ganz gewöhnlicher Vorgang. Großgeworden in einer Familie, in der sich dieses Amt von Generation zu Generation vererbt, war es für ihn vermutlich schon früh eine klare Sache: Sobald der Onkel in Pension
geht, tritt er dessen Nachfolge an. Auf seine Bewerbung kam dann auch prompt die Zusage und so wurde der…mehrAls sich Johann Reichhart 1924 für den Posten des Scharfrichters bewirbt, ist das für ihn ein ganz gewöhnlicher Vorgang. Großgeworden in einer Familie, in der sich dieses Amt von Generation zu Generation vererbt, war es für ihn vermutlich schon früh eine klare Sache: Sobald der Onkel in Pension geht, tritt er dessen Nachfolge an. Auf seine Bewerbung kam dann auch prompt die Zusage und so wurde der damals 31jährige Reichhart der neue Scharfrichter – in der 9. Generation seiner Familie.
Er blieb im Amt bis zum Jahr 1947 und vollstreckte in dieser Zeit insgesamt 3.165 Todesurteile.
Als ich dieses Buch sah, war ich vom Thema gleich fasziniert. Zum Glück ist die Todesstrafe in unserem Land abgeschafft, aber anderswo (zum Beispiel in Teilen der USA) gehört sie nach wie vor zur Rechtsprechung. Was sind das für Menschen, die einen solchen Beruf ausüben? Wie leben sie eigentlich damit? Ich versprach mir von dem Buch Infos dazu – und habe sie auch erhalten.
Das Buch reist zunächst noch ein Stückchen weiter zurück in die Geschichte, erzählt von der Familie Reichhart und ihrer – nunja – besonderen Tradition, die sich in gleicher Weise auch in anderen Scharfrichterfamilien findet. Vereinfacht kann man sagen: Irgendjemand musste den Job machen, aber mit demjenigen, der es tat, wollte niemand sonst etwas zu tun haben. So gab es für die Angehörigen einer Scharfrichterfamilie meist weder die Möglichkeit, einen „normalen“ Beruf zu ergreifen, noch in eine „normale“ Familie einzuheiraten. Also blieb man unter sich und bei seinem Gewerbe.
Reichhart war froh, dass er mit dem Fallbeil richten konnte. Für ihn bestand zwar nie ein Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Todesstrafe, aber er war der Überzeugung, dass die Vollstreckung so schnell und so schmerzlos wie möglich geschehen sollte, um dem Verurteilten unnötige Qualen und Angst zu ersparen.
Im Beruf lief es gut für ihn an – aber wie stand es um sein Privatleben? Er hatte Frau, er hatte mehrere Kinder und das Geld reichte vorne und hinten nicht. Er wurde pro Hinrichtung bezahlt und in der Weimarer Republik bedeutete dies ein sehr unregelmäßiges Einkommen. Viele Todesstrafen wurden in lebenslange Freiheitsstrafen umgewandelt, tatsächlich vollzogen wurden bis Ende 1928 „nur“ 23 Hinrichtungen. Für Reichhart bedeutete das, dass er manchmal monatelang überhaupt nichts verdiente. Und eine andere Verdienstmöglichkeit bot sich ihm auch nicht wirklich, da niemand den Scharfrichter beschäftigen, mit ihm Handel treiben, mit ihm nur verkehren wollte.
Er stellte mehrere Anträge auf Auflösung seines Vertrages, die aber abgelehnt wurden. Es kam das Jahr 1933. Wie es dann weiterging, kann man sich vorstellen. Allein zwischen 1940 und 1945 vollstreckte Reichhart 2.805 Todesurteile, unter anderem an Hans und Sophie Scholl.
Mit dem Einmarsch der Amerikaner 1945 wurde er verhaftet, kam jedoch nach einer Woche wieder frei, da die Besatzer seine Dienste benötigten. Nach zwei Jahren ging es dann für ihn ins Internierungslager. Sowohl seine Haft als auch das anschließende Gerichtsverfahren werden behandelt – und die Zeit danach. Wie lebte Reichhart als alter Mann? Hatte sich an seiner Einstellung irgendwas geändert?
Vervollständigt wird das Ganze mit statistischen Daten zu Hinrichtungen in Deutschland, Fotos, Aktenauszügen und Gerichtsprotokollen. Der Autor befasste sich (in anderen Büchern) sehr viel mit authentischen Kriminalfällen aus alter Zeit, daher hat er auch einige Straftaten, an deren Ende die Hinrichtung stand, hier geschildert. Zwischendrin hatte ich dadurch das Gefühl, kein Sachbuch, sondern einen Krimi zu lesen, aber das war im Grunde gar nicht schlecht, denn es lockerte auf. Von unterhaltsam kann man natürlich nicht sprechen, aber für mich las sich das Buch trotzdem überraschend leicht. Was die Frage nach dem Menschen Reichhart anging, bemühte sich das Buch um eine neutrale Schilderung, ich schwankte wechselnd zwischen vorsichtigem Verständnis und purem Grauen.